Als der OrientExpreß (damals noch mit scharfem S) auf seiner allerletzten großen Fahrt von Paris nach Istanbul im Mai 1977 letztmalig auch am Karlsruher Hauptbahnhof Station macht, ist das den BNN einen gefühlvollen Nachruf wert. „Das Flugzeug hat dem sagenumwobenen Zug den Rang abgelaufen“, lässt der Redakteur bedauernd wissen und erinnert mit blumigen Worten an die Geschichte des „Zugs der Könige und des Königs der Züge“. Genaugenommen war 1977 aber noch gar nicht alles vorbei. Als Euronight 469 „OrientExpress“ verkehrte auch weiterhin ein Nachtzug von P aris (später nur noch von Straßburg) bis nach Wien. Erst zum Fahrplanwechsel im Dezember 2009 rollte der kümmerliche Rest der stolzen Bahnlegende aufs Abstellgleis. 126 Jahre lang hatte es die Verbindung mit dem klangvollen Namen in unterschiedlichen Streckenvarianten gegeben. Von der glamourösen Jungfernfahrt des Luxuszuges im Jahr 1883 bis zu seinem unspektakulär en Ende als funktionale Nachtverbindung war Karlsruhe entlang des Weges immer ein Halt gewesen. Auch dank der „Großherzoglich Badischen
Staatseisenbahn“, die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts dabei geholfen hatte, den Traum des belgischen Mobilitätsvisionärs Georges Nagelmackers wahr werden zu lassen. Bei einem
Aufenthalt in Amerika hatte der Millionärssohn die Annehmlichkeiten einer Fahrt in den luxuriösen Pullman Zügen genossen. Tolle Idee, dachte sich der junge Mann und machte sich an die Umsetzung. Aber Probleme gab es viele: Der Deutsch Französische Krieg war gerade erst zu Ende gegangen, viele Staaten entlang der Strecke waren sich alles andere als grün, jede nationale Eisenbahngesellschaft hatte ihre eigenen Schienenbreiten und ohne Zölle, Gebühren, Stempel und Papiere ging im Grenzverkehr so gut wie nichts. Nagelmackers lies sich nicht abschrecken. Gegen viele Widerstände, nicht zuletzt die seines alten Herrn und Geldgebers, gründete er die „Compagnie Internationale des Wagonslits“ (CIWL). Er kaufte mehrere Eisenbahnwaggons und ließ sie zu einem Luxushotel auf Rädern ausbauen. Moderner ging es nicht und der Jungunternehmer sparte an nichts. Die Barsessel waren aus spanischem Leder,
die Bettwäsche aus Seide. An Bord gab es eine Bibliothek, Eisschränke und ein Bordrestaurant, in dem Sterneköche das verarbeiteten, was ihnen täglich frisch aus der jeweiligen Region an den Zug geliefert wurde. Nagelmakers Geschäftsmodell sah so aus: Die Bahngesellschaften der Länder, Königreiche und Fürstentümer stellten ihre Schienen, Bahnhöfe und Lokomotiven zur Verfügung, während seine Firma die Schlaf-und Speisewagen samt Personal für eine betuchte internationale Kundschaft an die jeweiligen Zugmaschinen hängt. Die Eisenbahngesellschaften teilten sich das Geld aus den Ticketverkäufen, der von den Fahrgästen erhobene Luxus Zuschlag ging an die CIWL. Der OrientExpress wurde zur Sensation
der Jahrhundertwende. Nagelmakers versprach Reisen durch mindestens sieben verschiedene Länder nahezu ohne lästige Grenzkontrollen. Zur ersten offiziellen Fahrt hatte der kluge Jungunternehmer Journalisten eingeladen, die das moderne Fortbewegungsmittel Zug in ihren Berichten stets kritisch beäugt hatten. Jetzt waren sie begeistert: „Die silbernen Helme der Champagnerflaschen blenden die Menge und strafen die trauernden Mienen und das unglaubwürdige Bedauern der Abreisenden Lügen“, schwärmte der Paris Korrespondent der „London Times“, Henri Opper de Blowitz. Im Salonwagen sollten sich in den kommenden Jahren Könige und Kurtisanen, Agenten, reiche Witwen und Literaten zuprosten. Nach und nach kamen
weitere Haltestellen und neue Streckenverläufe hinzu. Der Kern OrientExpress mit Halt in Karlsruhe erhielt eine ganze Reihe von Geschwisterzügen, die Fahrgäste aus London über
die Kanalhäfen nach Paris und dann weiter nach Ost und Südeuropa brachten. Nach dem Ersten Weltkrieg verkehrte der Kernzug nur noch bis Bukarest. Die Verbindung über Mailand und
Venedig erhielt den Namen SimplonOrientExpress. Auf dieser Strecke ließ sich die britische Schriftstellerin Agatha Christie vermutlich zu ihrem weltberühmten Krimi „Mord im OrientExpress“ inspirieren. Der Abstieg vom fahrenden Grandhotel zur normalen Nachtzugverbindung begann mit der Weltwirtschaftskrise. Um rentabel zu bleiben, musste die CIWL ab 1930 auch Zweite Klasse Abteile einführen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Luxuszüge nicht mehr gefragt. Die meisten Originalwagons der CIWL sind inzwischen in alle Welt
verkauft. Gelegentlich bieten exklusive Reisegesellschaften unter dem Namen OrientExpress noch Nostalgiefahrten für betuchte Kunden an. Gerade macht die Zuglegende wieder Schlagzeilen. Die französische Hotelgruppe Accor lässt den Luxus der alten Zeiten aufleben. Unter dem Namen „OrientExpress La Dolce Vita“ sollen ab 2024 die sanierten Wagons auf verschiedenen Rundstrecken durch Italien fahren. Das passt gut in die heutige Zeit. Angesichts von Flugscham und Klimawandel glauben viele an die Zukunft des Bahnverkehrs. Erst recht in Karlsruhe.

Nagelmackers Traum von der reibungslosen West Os Zugverbindung, der sich weder politische noch technische Hindernisse in den Weg stellen konnten, hat hier ihr Hauptquartier. Der Oberbür germeister der Stadt ist Vorsitzender der in den 1990er Jahren gegründeten „Magistrale für Europa“. Der Zusammenschluss aus Kommunen, Regionen, Wirtschaftsverbänden und
Bundesländern setzt sich für den Ausbau einer Schienentrasse von Paris nach Bratislava und Budapest ein. Annika Hummel ist die Geschäftsführerin. Sie bestätigt, was der Erfinder des
OrientExpress schon früh erkannt hatte: „Karlsruhe ist ein toller Knotenpunkt, von dem man die komplette Magistrale für Europa zwischen Paris und Budapest/Bratislava mit dem Nachtzug bereisen kann.“ Dass es mit Blick zurück auf die Anfänge des Luxuszuges so scheint, als hätten sich Nagelmackers Ideen vor 140 Jahren leichter realisieren lassen als heute, will sie so nicht gelten lassen. Die Magistrale sei nicht nur ein einzelnes Bauprojekt. Sie bestehe aus einer Vielzahl von Neu-und Ausbauprojekten, in verschiedenen Ausbaustadien.
„Allerdings brauchen wir ein stärkeres Commitment seitens der Nationalstaaten für den Bahnausbau.“ Längst gehe es auch nicht mehr nur um die Hochgeschwindigkeit auf der
Strecke. „Das Zusammenspiel zwischen Nah-und Fernverkehr, die Ertüchtigung verschiedener Zulaufstrecken zur Magistrale aber auch der Güterverkehr spielen eine große Rolle. All
das tun wir um den Klimaschutz und die Verkehrswende in Europa voranzutreiben“, so die Magistrale Geschäftsführerin. Sie ist überzeugt, dass das Thema Bahnverkehr in den kommenden
Jahren politisch wieder mehr Gewicht bekommen wird. Der jüngste Ausbau der Nachtzugverbindungen zeige, dass sich etwas tue. „Zugfahren ist wieder sexy“, meint sie.

Quelle: BNN vom 30.01.2023