Im Jahr 1850 wurde mit der Geislinger Steige ein technisches Meisterwerk vollbracht, das nicht nur als eine der ersten Gebirgsquerungen einer Eisenbahnlinie in Kontinentaleuropa gilt, sondern auch zur Initialzündung für die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region rund um Geislingen an der Steige wurde. Heute, 175 Jahre später, feiert die Stadt dieses Jubiläum – und die Bedeutung der Bahnstrecke ist aktueller denn je.

Technische Pionierleistung mit Weitblick

Die Geislinger Steige überwindet auf einer Strecke von 5,7 Kilometern einen Höhenunterschied von 112 Metern mit einer Steigung von 22,5 Promille – ein technisches Kunststück für die Mitte des 19. Jahrhunderts. Schon damals wurde die Strecke so geplant, dass sie ohne aufwändige technische Hilfsmittel wie Zahnradbahnen oder Spitzkehren auskam. Dennoch erforderte der Bau unter widrigsten Bedingungen den Einsatz von rund 3000 Arbeitern. Sie kamen aus Württemberg, aber auch aus Bayern, Österreich und der Schweiz – und arbeiteten ohne heutigen Arbeitsschutz, meist unter lebensgefährlichen Umständen.

Vom Dorf zur Industriestadt

Geislingen zählte zur Eröffnung der Strecke nur 2.345 Einwohner. Doch mit dem Anschluss an das wachsende Schienennetz veränderte sich alles. Die Bahn machte es möglich, Waren schnell und zuverlässig in die großen Wirtschaftszentren zu transportieren. Entlang des Filstals entstanden Fabriken, die zunächst aus kleinen Familienbetrieben bestanden und sich in nur zwei Generationen zu großen Aktiengesellschaften entwickelten.

Ein Paradebeispiel ist die 1850 gegründete Maschinenfabrik Straub & Sohn, die 1883 zur Maschinenfabrik AG wurde und 1929 in der heutigen Heidelberger Druckmaschinen AG aufging. Noch bekannter ist die aus mehreren kleinen Firmen hervorgegangene Württembergische Metallwarenfabrik AG (WMF) – bis heute der größte Arbeitgeber der Region.

Diese Industrialisierung war ohne den Bahnanschluss nicht denkbar. Der Schienentransport ermöglichte eine sichere Rohstoffversorgung und eröffnete neue Absatzmärkte. Die Verbindung über die Geislinger Steige war das wirtschaftliche Rückgrat der Region – und ist es bis heute geblieben.

Alte Strecke, neue Bedeutung

Mit der Inbetriebnahme der Neubaustrecke Stuttgart–Ulm im Jahr 2022 wurde die Verbindung über die Schwäbische Alb nochmals modernisiert. Doch trotz aller Hochgeschwindigkeit bleibt die Geislinger Steige unverzichtbar: Sie entlastet den Regionalverkehr, ermöglicht flexible Zugverbindungen und spielt eine zentrale Rolle im Gütertransport. Denn schwere Güterzüge können die neue Strecke mit ihren technischen Einschränkungen nur eingeschränkt nutzen – auf der Geislinger Steige dagegen sind täglich bis zu 80 Güterzüge vorgesehen.

Das unterstreicht, was schon seit 175 Jahren gilt: Eine gute Anbindung ans hochrangige Schienennetz ist ein entscheidender Standortfaktor. Wo leistungsfähige Bahnverbindungen existieren, entstehen wirtschaftliche Dynamik, industrielle Entwicklung und Arbeitsplätze. Das Beispiel Geislingen zeigt dies in aller Deutlichkeit – und ist zugleich ein Beleg dafür, dass Infrastrukturpolitik weit mehr ist als reine Verkehrsplanung: Sie ist Wirtschaftspolitik im besten Sinne.

Quelle: Tatjana Bojic: BNN, vom 24.06.25