Fahrkarten kontrollieren, Fahrplanauskünfte erteilen oder auch mal mit schwerem Gepäck helfen: von den Zuständigkeiten eines Zugchefs hat man klare Vorstellungen. Mario Bidlingmaier aus Rudersberg (Rems-Murr-Kreis) war am Sonntag aber in einer ganz anderen Angelegenheit gefordert. Der 33-Jährige, der als Zugchef in Diensten der Deutschen Bahn (DB)
steht, wurde unversehens zum Geburtshelfer. Sonntagmorgen, der Pariser Ostbahnhof: Pünktlich verlässt ICE 9571 die französische Hauptstadt. Gut drei Stunden später sollte der Zug seinen Endbahnhof Stuttgart erreichen. Das es nicht dazu kam, lag nicht an einer der wiederkehrenden Weichenstörungen oder Defekten am Zug sondern an etwas völlig anderen. „Rund eine Stunde nach der Abfahrt des Zuges hat mich ein Mann angesprochen und gefragt, wie lange es noch nach Straßburg dauere“, erzählt Mario Bidlingmaier. Die elsässische Metropole ist der erste planmäßige Halt nach Paris. „Der Mann erzählte dann noch, dass bei seiner Frau die Wehen eingesetzt hätten.“ Bidlingmaier stattete den Fragesteller mit einer Flasche Wasser
für die werdende Mutter aus und fragte über den Bordlautsprecher und in drei Sprachen, ob nicht ein Arzt im Zug sei. Es meldete sich ein Rettungssanitäter aus der Nähe von Göppingen.
Die Hochgeschwindigkeitszüge, die zwischen Deutschland und Frankreich pendeln, werden von der DB und der französischen Staatsbahn SNCF in Kooperation betrieben – beide Bahngesellschaften stellen das Bordpersonal. Zusammen mit seinem französischen Pendant Vrej Zulfikaroglu beriet Bidlingmaier die Lage. Während der Sanitäter sich der Frau annahm, entschied man sich, den Zug außerplanmäßig im Bahnhof TGV Lorraine halten zu lassen, einem Stopp auf halbem Weg zwischen Metz und Nancy, der Lothringen ans Hochgeschwindigkeitsnetz anschließen soll aber etwas abseits liegt. Den Wagen 28, wo die Frau in den Wehen lag, hatten inzwischen die übrigen Fahrgäste verlassen. „Es hat dann rund 20
Minuten gedauert, bis Rettungskräfte aus Metz da waren“.Da die werdende Mutter aber kein Französisch sprach, waren Mario Bidlingmaiers Übersetzungsdienste gefragt. Ein einst
angefangenes Lehramtsstudium in Französisch, ein längerer Aufenthalt in Lyon und „meine Begeisterung für Sprachen“, seien ihm dabei sehr zu pass gekommen, sagt der Geburtshelfer.
Es waren also keine Sprachbarrieren, dass die Helfer entschieden, das Kind müsse im Zug zur Welt kommen. Der Geburtsvorgang war schlicht zu weit fortgeschritten, als dass man die werdende Mutter hätte noch transportieren können. Schließlich kam Felix, so der Name des neuen Erdenbürgers, an Bord zur Welt. „Wir waren alle sehr erleichtert“, erzählt
Bidlingmaier. Ein Gefühl, das sich auch in den übrigen Waggons verbreitete, nachdem der Zugchef per Durchsage die frohe Nachricht durchgab. „Das Team im Zug hat super zusammengearbeitet. Das hat die Atmosphäre sehr entspannt“, erzählt Bidlingmaier. So hätten etwa die Kollegen aus der Bordgastronomie die mitreisenden Kinder mit Spielsachen
versorgt – auch den werdenden großen Bruder, der in der Obhut des Vaters auf die Ankunft des neuen Familienmitgliedes wartete. „Hut ab vor dem Vater, wie er das alles gemanagt hat“,
sagt Bidlingmaier, der selbst Papa einer Tochter ist. Der 33-Jährige hat eine Ausbildung zum Kaufmann für Verkehrsservice gemacht. Erst eine Zusatzqualifikation erlaubte es ihm, in den
Hochgeschwindigkeitszügen zwischen Deutschland und Frankreich zu pendeln. Die SNCF habe eine Handreichung, wie mit medizinischen Vorfällen an Bord bis hin zu Geburt oder Tod umzugehen sei. Und der Zug? Nachdem die größer gewordene Familie in Richtung Krankenhaus abtransportiert wurde, fuhr er weiter. Wegen der großen Verspätung aber nur bis Karlsruhe. Dort wendete der ICE und rauschte wieder zurück nach Paris.
Quelle: Stuttgarter Nachrichten, 31.01.2023